HÖRSPIEL-SCRIPT (Auszug)
Stadt-Land-Schluss
(Teil Ia - Ib - II):
"Amoklauf auf dem Ku´damm"
Moderierte Live-Schaltung aus einem Rundfunkstudio
MODERATORIN: Auf Radio1 vom RBB fahren wir fort mit unserer Berichterstattung über den
Amoklauf eines Geistesgestörten in der West-Berliner Innenstadt, der heute
am Donnerstag vormittag gegen zehn Uhr begann und nach wie vor
andauert. Über die Anzahl der Toten wissen wir noch nichts – also auch
nicht, ob es tatsächlich Tote gegeben hat, zu beklagen gegeben hat. Es geht
eben alles sehr schnell, fast zu schnell. Die Ereignisse überschlagen sich. Wir
versuchen weiterhin, für Sie Ordnung in das Geschehen zu bringen. Vor Ort
ist jetzt für uns unser Reporter, der eigentlich über das Fest zum Auftakt der
'russischen Woche' des Einzelhandels am westlichen Kudamm berichten
wollte. Gerd Meyer-Koch, dazu kamen Sie leider nicht ...
REPORTER: Nein, Sylvie. Das muss noch warten. Ich stehe in der Lietzenburger Straße. Vor
ungefähr 5 Minuten eilte der Täter hier Richtung Osten entlang. Genauer kam er
aus dem wesentlich belebteren Kurfürstendamm zu Fuß angerannt und gab dabei
immer wieder Warnschüsse in die Luft ab, so dass der Bürgersteig für ihn relativ
frei war bis vielleicht auf ein paar Jugendliche, die Kopfhörer in den Ohren hatten
und daher von den Schüssen nichts hörten. Und dann lief er wie gesagt hier in den
ruhigeren Seitenarm des Kudamms hinein. Ich konnte ihn – ich befinde mich auf
dem Olivaer Platz – aus ungefähr 200 Meter Entfernung gut sehen. Ein sportlicher
Mittdreißiger mit Sonnenbrille und zusätzlich offenbar schwer bewaffnet mit
Munitionsgürtel, ungefähr einsachzig, dunkelblond, offensichtlich Europäer.
MODERATORIN: Das ist ja nicht ungewöhnlich. Jedenfalls ein glücklicher Zufall, dass Sie sich
mehr oder weniger in der Nähe des Geschehens aufhielten, so dass Sie den
Mann sogar aus geringer Entfernung sehen konnten. Was geschah dann ?
REPORTER: Er schien einen Moment lang inne zu halten. Es war zu dem Zeitpunkt ja auch
noch keine Polizei vor Ort. Er stand zunächst am westlichen Ende des Olivaer
Platzes – wie gesagt: ich hielt mich eher mittig auf – und schien seinen Blick über
die Restaurants und Geschäfte streifen zu lassen. Ich glaube nicht, dass er nach
etwas Speziellem Ausschau hielt, zum Beispiel nach Komplizen. Offenbar
operierte dieser Mann alleine, ein typischer Einzeltäter. Das ist ja auch eher die
Regel bei Amokläufern.
MODERATORIN: Er stand also da und sah sich um ? Das hört sich nach so etwas wie einer
Verschnaufpause an, nachdem er ja zuvor, wie die Meldungen lauten, auf
dem Kurfürstendamm wild und wahllos um sich geschossen hatte. Als er also
danach am Olivaer Platz zunächst so tatenlos und unentschlossen herum
stand: Vielleicht überlegte er, in welchen Laden oder in welches Restaurant
er gehen könnte, um dort ein möglichst großes Blutbad anzurichten ? Das
wäre doch eigentlich naheliegend gewesen aus seiner Sicht. Was war Ihr
persönlicher Eindruck ? Sie standen ja in nächster Nähe.
REPORTER: Es hatte den Anschein, als ging der Mann kurz in sich, um sich selbst seines festen
Willens zu vergewissern, auf dem von ihm eingeschlagenen Weg weiterzugehen.
Also auch bewusst der Versuchung zu widerstehen, sich ins anonyme
Großstadtgetümmel zu flüchten, um vielleicht in allerletzter Minute der
Verfolgung zu entgehen. Wie gesagt: Für mich sah es so aus, als würde er
innerlich noch einmal für sich prüfen, ob er am richtigen Ort zur richtigen Zeit und
in der richtigen Verfassung war.
MODERATORIN: Aber dann hat er schließlich geschossen, oder ?
REPORTER: Ja, hat er. Er schoss erneut.
MODERATORIN: Darum geht es hier letzten Endes, leider. Ich erinnere daran, dass eine Reihe
von Ladenbesitzern am Olivaer Platz aktuell gerade die russischen Wochen
veranstaltet, die zwar kein besonders großer Publikumserfolg zu sein
scheinen -aber immerhin. Da muss doch unter diesen besonderen tragischen
Umständen einiges zu Bruch gegangen sein, oder ?
REPORTER: Der ohnehin nie besonders belebte Platz war auch zum Zeitpunkt des Amoklaufs
-also Donnerstag Vormittag um kurz vor Zehn-nicht besonders voll. Das war ein
großes Glück, denn mit einem Mal zielte unser Mann mit ausgestrecktem Arm auf
das große Schaufenster eines Möbelhauses, das über den ersten und zweiten Stock
reicht und hinter dem aus aktuellem Anlass eine große Russlandflagge hing und
drückte ab. Mit ohrenbetäubendem Lärm barst das Ding und Abertausende von
Glassplittern fielen auf den Bürgersteig vor dem Geschäft.
MODERATORIN: Das hört sich an, als sei dort größerer Schaden entstanden.
REPORTER: Mit Sicherheit.
MODERATORIN: Da gilt unser Mitgefühl natürlich ganz besonders denjenigen
Geschäfteinhabern am Olivaer Platz mit osteuropäischen Wurzeln. Kleine
Läden haben es schwer in Berlin – das wissen wir alle.
Die müssen sowieso schon hart ums wirtschaftliche Überleben kämpfen zwischen
deutschen Finanzbehörden auf der einen und Schutzgeldmafia auf der anderen
Seite.
MODERATORIN: (zögernd:) Überspitzt ausgedrückt. Vermutlich ja, Gerd Meyer-Koch. Aber
wir müssen auch über mögliche Verletzte reden. Was ist Ihr aktueller
Erkenntnisstand ? Wurden Menschen in Mitleidenschaft gezogen als der
Gewalttäter um sich schoss ?
REPORTER: Nein, glücklicherweise niemand, Sylvie. Aber vor dem Hauseingang war ein
Kinderwagen abgestellt, der einiges von dem herabfallenden Glas abbekam.
Offensichtlich war der Wagen leer. Es bedarf aber keiner überbordenden
Phantasie, sich auszumalen, was für Verletzungen ein darin liegendes Kind davon
getragen hätte.
MODERATORIN: Nun muss man fairerweise anmerken, dass es gerade im sehr bürgerlichen
Wilmersdorf seit zwei, drei Jahren sehr in Mode gekommen ist, dass dort
viele junge Frauen und Männer ihre Hunde in klassischen Kinderwagen
spazieren fahren – wenn diese beispielsweise noch zu jung für den
Straßenverkehr oder im Gegenteil schon etwas gebrechlich sind. Diese
ultramodernen Mamis und Papis trifft man mit ihren Kleinen immer öfter
gerade in der westlichen Innenstadt an. Ich für meinen Teil schaue, gerade
wenn ich in Charlottenburg oder Wilmersdorf bin, immer genau hin, wenn
ich einen Kinderwagen an mir vorbeirollen sehe. Oft liegt da neuerdings ein
Vierbeiner drin.
REPORTER: Da geht es mir ähnlich. Aber worauf wollen Sie jetzt genau hinaus ?
MODERATORIN: Es hätte, wenn der Wagen belegt gewesen wäre, also vielleicht nicht
unbedingt ein Kind getroffen, ein menschliches Junges sozusagen. Aber ein
Tier würde natürlich ebenfalls Schmerzen empfunden haben, wenn es mit
herunterfallenden Glassplittern malträtiert worden wäre. Das steht außer
Frage. Wie ging es danach weiter ?
REPORTER: Der Mann lief gemächlich eine Reihe parkender Autos am Rand des Olivaer
Platzes entlang. Mir war als ich das sah gleich klar, dass er nach einem
Fluchtwagen Ausschau hielt. Man konnte also schon zu diesem Zeitpunkt -also
vor ungefähr einer Stunde- darauf schließen, dass er seinen gewalttätigen Streifzug
durch die Stadt noch nicht abgeschlossen hatte. Es war ja auch damit zu rechnen,
dass jeden Moment die Polizei auf der Szene erscheinen würde.
MODERATORIN: Der Olivaer Platz steht ja für Läden und Passanten der oberen Preisklasse.
Da hatte der Amokläufer vermutlich eine große Auswahl an exklusiven und
teuren Fabrikaten und ist mit einem eleganten Flitzer davongefahren.
REPORTER: Damit hatte ich ebenfalls gerechnet. Und es standen tatsächlich sehr stilvolle
Autos in seiner Reichweite. Aber, nein: Er schritt erst einmal vier, fünf wirklich
schöne Wagen ab und blieb dann mit einem zufriedenen Lächeln vor einem alten
Ford stehen. Zulassung auf jeden Fall vor 1990.
MODERATORIN: Wie kam der denn dahin ? Das stellt ja nun einen ziemlichen Bruch dar.
Haben Sie dafür eine Erklärung ?
REPORTER: Das kam auch für mich sehr überraschend. Vielleicht der Wagen eines
exzentrischen Sammlers oder vielleicht von irgendjemandem, der sich nicht mit
Autos auskennt. Jedenfalls war es für den Amokläufer natürlich kein Problem, die
Tür aufzubrechen -dabei wirkte er übrigens sehr routiniert, um nicht zu sagen
`cool´-und den Motor kurzzuschließen, so dass er tatsächlich damit davonrasen
konnte. Soweit man bei dem angesprochenen Fabrikat von `Rasen´ sprechen kann
…
MODERATORIN: … und bei einem Amok-Läufer von `cool´, Herr Meyer-Koch. Das ist vor dem
Hintergrund des Geschehens ein wenig sehr leger ausgedrückt.
REPORTER: Sie haben recht. Das war unangemessen.
MODERATORIN: Wir sympathisieren schließlich nicht mit diesem Mann. Auch wenn wir seine
Motive noch nicht kennen. Wir können beispielsweise nicht ganz
ausschließen, dass er aus einer Notlage heraus gehandelt hat. Eventuell aus
Verzweiflung oder Armut. Vielleicht haben uns unbekannte Umstände ihm
keine andere Wahl gelassen als mit einer Reihe von aufsehenerregenden
Taten oder sagen wir besser UN-taten auf sein persönliches Drama
aufmerksam zu machen. Die Stunde der Psychologen wird, was die Ereignisse
heute anbelangt, sicher bald schlagen. Und das ist natürlich auch gut so. Nur
durch professionelle Analysen können verabscheuungswürdige Taten wie die
vorliegende vielleicht in Zukunft wenn nicht völlig verhindert, dann doch
zumindest eingedämmt werden. Oder vielleicht auch durch die Polizei.
REPORTER: Ja, die erschien gleich mit drei Wagen am Olivaerplatz. Keine fünf Minuten,
nachdem unser Mann davongefahren war.
MODERATORIN: Schnell, aber nicht schnell genug ...
REPORTER: Muss man leider sagen, ja. Die junge Polizeihauptkommissarin, die den Trupp
leitete, ärgerte sich selber sichtlich.
MODERATORIN: Sie konnten sie bereits befragen ? Hatte sie denn dafür Zeit ? Wollte sie den
Täter nicht gleich folgen, nachdem sie in Erfahrung gebracht hatte, in welche
Richtung er mit dem Unglückswagen geflüchtet war ?
REPORTER: Nein, die Polizei ist ja gut vernetzt in einer dichtbesiedelten Stadt wie Berlin. Die
Hauptkommissarin nahm per Digitalfunk kurz Kontakt auf mit der angrenzenden
Polizeidirektion 3 und übertrug die Koordination der Verfolgung Kollegen von
dort.